Ellenstraße 36
Das heutige Treppchen
Jakob Hermes schreibt über das Haus Ellenstraße 36: "Ein dreigeschossiges Haus mit sechs Fensterachsen, durch zwei risalitartig vorspringende Pfeiler in drei Abschnitte unterteilt, trägt ohne Zweifel nach neuem Anstrich zur Verschönerung des Stadtbildes bei. Nach dem Alter des schönen Portals zu urteilen, wurde es Ende des 18. Jahrhunderts erbaut, dürfte aber im letzten Jahrhundert verändert worden sein."[1] Das Haus wurde am 26. September 1983 als Denkmal eingetragen. Die Beschreibung der Denkmalbehörde lautet: "Dreigeschossiges Wohnhaus (18. Jh.) in drei Doppelachsen. Spätklassizistiche Putzfassade mit Pilastergliederung zu Ende des 19.Jh. vorgeblendet. Alte Rokokotür in der Mittelachse."
Zum Ende des 19. Jahrhunderts betrieb Heinrich Goertsches in dem Haus ein Restaurant. Wilhelmine Gortsches hatte zur gleichen Zeit ein Putzgeschäft (Damenhüte). Außerdem hatte der Jude Isidor Rath dort einen kleinen Bauernhof und betrieb Viehhandel.[2]
Im Adressbuch von 1930/31 steht dann der Eintrag "Heisters, Gebr., Fahrräder, Motorräder, Musikapparate, Eisenwaren, Werkzeuge, Radio, Waffen und Munition". Auch eine Anzeige im Adressbuch verweist auf die Fa. Heisters, die dann aber schon bald ihren Sitz verlegte und im Adressbuch 1937 unter Studentenacker 4 erscheint.
Isidor Rath erscheint als Rentner auch noch im Adressbuch von 1937 unter Ellenstraße 36. Er starb aber wohl schon 1936 eines natürlichen Todes. Seine zweite Ehefrau Julie, geb. Wolf, verstarb erst 1938. Isidors gesangbegabte Tochter Erna Rath heirate einen Holländer namens Goumans[3].
Detailliert schreib Kaiser über das Leben von Erna Rath:
... verlassen 1938/1939 120.000 Juden – meist fluchtartig – Deutschland.
Wie die als Amateur-Sängerin bekannte und beliebte Erna Rath, am 26. Januar 1887 als Tochter des Viehhändlers Isidor Rath und seiner ersten Ehefrau Fanny Marcks in Kempen geboren. Am 17. Dezember 1938 heiratet sie hier den 14 Jahre älteren Möbelschreiner Peter Johannes Goumans, aus Venray gebürtig. Damit hat sie die niederländische Staatsbürgerschaft erlangt und siedelt am 16. Juni 1939 mit ihrem Mann nach Venray um. Dort wohnt das Ehepaar im Zentrum der Stadt, an der Scholstraat 1 A. Erna Rath hat Goumans in Kempen durch die dortige Kinobesitzer-Familie Janssen kennen gelernt, die die niederländische Staatsbürgerschaft besaß. Um durch diese Heirat ihr Leben zu retten, ist sie von der israelitischen zur römisch-katholischen Konfession übergetreten. Die Ehe soll, so will es die Vereinbarung, nur auf dem Papier bestehen. Goumans` zweite Frau war gerade vier Monate vor seiner dritten Eheschließung mit Erna Rath verstorben, am 6. September 1938. Aber in den Niederlanden beruft Goumans sich, so geht aus mündlicher jüdischer Überlieferung hervor, auf seine ehelichen Rechte gegenüber der attraktiven Frau. Daraufhin kommt es zur Trennung. Erna Rath fristet schließlich ihren Lebensunterhalt dadurch, dass sie für fremde Leute näht: „Sie hat es sehr, sehr schwer gehabt“. Aber infolge der Heirat kommt sie während der Zeit der Verfolgung mit dem Leben davon. Allerdings gibt es einen Hinweis darauf, dass sie während der deutschen Besetzung „untergetaucht“ ist. Am 5. Juni 1945 lässt sie sich in Gemert nieder, zieht aber noch einige Male um: am 27. November 1956 nach Krefeld, am 11. Februar 1961 nach Venlo, schließlich am 2. September 1969 zurück nach Venray, wo sie aber am 24. Oktober 1970 verstirbt. Aber erst 1968 hat sie sich in Roermond von ihrem Mann scheiden lassen – im 81. Lebensjahr und nach 30 Jahren Ehe.[4]
In dem Artikel Auf den Spuren des jüdischen Lebens in Kempen, einsehbar in Min-Kempe.de schreibt Kaiser noch, dass Erna wie auch Emmy Hirsch von den Niederlanden nach der Besetzung durch die Deutschen in KZs deportiert wurde.[5] Da haben seine letzten Recherchen offenbar zu einem anderen und genaueren Ergebnis geführt.
Das Adressbuch von 1937 weist außerdem noch weitere Personen auf, die dort sicher zum Teil mit ihren Familien lebten, nämlich den Schreiner Theodor Hahnen, den Arbeiter Johann Mertes, den Rentner Heinrich Schlaffen und dessen Sohn, den Anstreicher Heinrich Schlaffen jr.[6] Vor dem Krieg und bis Ende der 50er wohnte im zweiten Stock Karl Heidenreich. Und nach 1945 bis etwa 1975 wohnte im Haus Frau Höhner; sie hatte dort auch eine kleine Schneiderei.[7]
Erna Goumans, geb. Rath, verkaufte das Haus an die Eheleute Gerhard und Hubertine Keuthen, geb. Maessen, die um die Ecke in der der Oelstraße 16 wohnten und dort ein Milchgeschäft betrieben. Keuthen verlegten ihr Geschäft zur Ellenstraße 36. Das Geschäft befand sich in der rechten Hälfte des Hauses. Man betrat das Haus über einen kleinen Flur und lief dann auf die Theke zu, an der noch Milch lose in die mitgebrachte Milchkanne gepumpt wurde. Geradeaus führte eine alte Treppe in den ersten Stock. Gerhards Sohn Josef Keuthen führte das Geschäft noch bis Anfang der siebziger Jahre gemeinsam mit seiner Frau fort. Gerhards Frau starb im November 1959.[8]
Familie Keuthen wohnte in der Zeit über dem Milchgeschäft. Josef hatte mit seiner Frau drei Kinder. Hinter dem Haus hielten sie zeitweise mitten in der Kempener Innenstadt ein Pony. Nach Aufgabe des Geschäftes wohnten Keuthen noch einige Zeit weiter im Haus und auch kurz im Nachbarhaus Ellenstraße 35, bevor sie Kempen verließen und nach Süchteln zogen. Zumindest das Erdgeschoss des Hauses stand nach Schließung des Geschäftes einige Jahre leer.
Bis 1980 wurde das Haus unter Leitung von Architekt Ruland vollkommen durchgebaut. Lediglich die Treppe blieb stehen, weil sie unter Denkmalschutz steht. Die schöne alte Türe wurde von Klaus-Udo Franke restauriert. In dem Haus eröffnete dann 1980 Klaus Hackenberg mit seiner Frau Monika die stadtbekannte Gaststätte Treppchen[9], die bis heute unter diesem Namen besteht. Nach dem frühen Tod von Klaus Hackenberg heiratete Monika Peter Roßlenbroich und führte mit ihm die Kneipe fort. Einige Jahre teilte man sich den hinter dem Haus gelegenen Wintergarten mit dem benachbarten Ellenpoort. Um 2000 übernahm dann dessen Inhaber Armin Horst auch das Treppchen. Seitdem sind beide Lokale in einer Hand.
Einträge in alten Adressbüchern
siehe Datenbankrecherche
1879
- Leiting, Schreiner, alte Haus-Nr. 96
1898
- Goertsches, Heinr., Restaur.
- Goertsches, Wilhelmine, Putzgesch.
- Rath, Isidor, Viehhändler
1912
- van den Bergh, Alfons, Fabrikarbeiter
- Deuß, Maria, Näherin
- Deuß, Otto, Steindrucker
- Leurs, Tillm., Fuhrkn.
- Peters, Heinr.
- Rath, Isidor, Viehhdlr.
1925
- Mülders, Gottfr., Fabrikarb.
- Rath, Isidor, o. G., Tel. 140
- Schommers, B., Buchdruckerei, Buchbinderei, Einrahmungsgeschäft, Buch-, Kunst- u. Schreibwarenhandlung (Ellenstr. 4 und 36)
- Westerop, Heinr., Schloss.
1930/31
- Heisters, Gebr., Fahrräder, Motorräder, Musikapparate, Eisenwaren, Werkzeuge, Radio, Waffen und Munition
- Janßen, Peter, Arbeiter
- Mülders, Gottfried, Zuschneider
- Rath, Isidor
1937
- Hahnen, Theodor, Schreiner
- Mertes, Johann, Arbeiter
- Rath, Isidor, Rentner
- Schlaffen, Heinrich, Rentner
- Schlaffen, Heinrich jr., Anstreicher
Quellen
- ↑ Hermes, Jakob, Das alte Kempen, Krefeld, 1982, S. 144
- ↑ Adressbuch für den Kreis Kempen/Rhein, 1898
- ↑ Kaiser, Hans, Kempen unterm Hakenkreuz, Band 2, Viersen, 2014, S. 376ff.
- ↑ Kaiser, Kempen unterm Hakenkreuz, Band 2, Viersen, 2014, S. 391
- ↑ vgl. Kaiser, Hans, Auf den Spuren des jüdischen Lebens in Kempen, http://www.min-kempe.de/spuren.html
- ↑ Adressbuch für den Kreis Kempen-Krefeld, 1937
- ↑ Aus der Erinnerung von K.-H. Hermans.
- ↑ Aus den Unterlagen der Straßengemeinschaft: Nov. 1957 Geb. Frau Keuthen (80 Jahre), Nov. 1959 Sterbefall Keuthen
- ↑ Nach Unterlagen der Straßengemeinschaft waren Hackenberg 1980 schon Mitglieder der Straßengemeinschaft.
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