Ellenstraße 5

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Ellenstraße 5 vor dem Krieg

Haus Winter/Franke

Simon Winter und seine Enkelin Mirjam Winter 1935 auf Ellenstraße in Kempen (Quelle: RP)

In diesem Haus lebte die streng gläubige orthodox-jüdische Familie Winter. Der alte Simon Winter ist am 6. Oktober 1844 geboren und war von Beruf Viehhändler und Metzger. Schon 1879 erscheint der Name im Kempener Adressbuch, damals noch unter der Kempener Hausnummer 31, als die Häuser noch nicht straßenweise nummeriert waren.[1] Ein Tor an der Ellenstraße führte zu den rückwärts gelegenen Stallungen. Simon Winter war ein Mann mit Bart und langer Pfeife. In den Erinnerungen von Karl Hamm wird er mit den Worten zitiert: "Ich möchte es mir auf die Stirn schreiben, dass ich ein Jude bin."[2] "Als junger Mann setzte Simon Winter in zwei Kriegen sein Leben als Soldat für Deutschland ein: Er kämpfte 1866 für das Königreich Preußen, zu dem Kempen damals gehörte, gegen Österreich und nahm 1870/71 am Krieg gegen Frankreich teil."[3] Über Simon Winter berichtet Hans Kaiser ausführlich in einem Bericht in der Rheinischen Post anlässlich der Verlegung von Stolpersteinen in der Kempener Innenstadt und auch anlässlich des Besuchs seiner Enkelin Mirjam Honig.[3]

Im Haus lebten die Kinder Salomon und Henriette, genannt Jettchen. Salomon, der spät noch heiratete und eine Tochter hatte, betrieb wie sein Vater Viehhandel. Jettchen führte später im Haus ein Kurzwaren- und Handarbeitsgeschäft.[4] Ein weiterer Sohn von Simon Winter war Karl Winter, promovierter Rechtsanwalt in Kempen und Vater von Mirjam Honig, der letzten noch lebenden Kempener Jüdin. Karl emigrierte 1936 zusammen mit seiner Frau Berta und seinen Töchtern Mirjam und Ruth nach Venlo.[5][6]

Ellenstraße 5, 2013

Simons Tochter Selma heiratete 1904 Emil Winter von einem Bauernhof an der Neustraße 1. Sie war eine selbstbewusste, tatkräftige Frau, geradezu emanzipiert für ihre Zeit.[5] Eine weitere Tochter von Simon war Emilie Sara. Sie war wohl die Tochter, die laut Karl Hamm Krankenschwester in Frankfurt und aktive "Zionistin" war. Es herrschte ein gut nachbarschaftliches Verhältnis zu Familie Winter. Bei Lebensmittel-Hamm wurde "koscher" eingekauft. Am Pascha-Fest erhielt man von Winter ungesäuertes Brot, Mazen genannt.

Nach der Machtergreifung in Deutschland durch den Nationalsozialismus wanderte Salomon Winter mit den Töchtern Elsa, Johanna und Henriette spät, aber rechtzeitig aus, zuerst nach Amsterdam, später nach London.[2][7] Seine Frau Else war schon am 1. März 1933 (bei der Geburt ihrer Tochter Elsa?) verstorben. Elsa (Els'chen) Winter, am 1. März 1933 geboren, gelangte mit einem Kindertransport 1939 nach England. Sie wurde in den sechziger Jahren in Jerusalem bei einem Palästinenser-Attentat getötet."[5]

Am 10. November 1938, der so genannten "Kristallnacht", wurde Simon Winter, den im Alter von 94 Jahren Verwandte umsorgen, in seiner Wohnung auf der Ellenstraße zu Boden geschlagen. Sein Sohn Karl Winter schaffte es, den verstörten alten Mann in die Niederlande nachkommen zu lassen. In Amsterdam, wo Dr. Winter ihn in einem Heim untergebracht hatte, starb Simon Winter am 12. Januar 1941. Dort auf dem Judenfriedhof ist er auch begraben.[8] (Nach Friedhelm Weinforth starb Simon Winter vermutlich kurz vor der Deportation 1941 in Kempen.[9][10])

1939 kauften der Malermeister Paul Franke und seine Ehefrau Agnes, geb. Schroers aus der Josefstraße 3, das Haus. Als Verkäufer sind im Kaufvertrag vom 11. Januar 1939 aufgeführt:

a) Salomon Winter, Kempen, Ellenstraße 5
b) Witwe Meier-Levisohn, Emilie Sara, geb. Winter
c) Frl. Henriette Sara Winter
d) Dr. jur. Bruno Erkes, Steuerberater, Kempen, Kuhstr.[11], handelnd für Frau Emil Winter, Selma, geb. Winter und deren Ehemann, wohnhaft zu Jerusalem, Palästina VIII,
8027 Amtsgericht Kempen

Es handelte sich hier um eine Erbengemeinschaft, und zwar um die Erben von Simon Winter, nämlich Salomon und drei Schwestern. Das von Karl Hamm erwähnte Jettchen dürfte Henriette gewesen sein. Salomons Schwester Selma ist offenbar schon früh nach Israel ausgewandert. Salomons Bruder, der Kempener Rechtsanwarl Karl Winter, ist nicht erwähnt.

Franke wohnten vorher in der Josefstraße 2 und zogen nun mit den Töchtern Leonore (geb. 1932, verh. Kozorek) und Waltraud (geb. 1934, verh. Sieben) zur Ellenstraße. Nachzügler Klaus-Udo folgte erst 1942 nach dem Umzug zur Ellenstraße.

Quittungskopf der Fa. Paul Franke (Febr. 1980, als es das Geschäft schon lange nicht mehr gab)
Ellenstraße 5, 2013

Im Anbau richtete Paul Franke seine Werkstatt ein. An der Ellenstraße eröffnete er ein Farben- und Tapetengeschäft. 1946 erfolgte dann zunächst die Instandsetzung der Straßenansicht. Die Anzahl der Fenster im 1. Obergeschoss wurde dabei von vier auf drei reduziert. 1959 bauten die Eheleute Franke das Haus völlig um. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1967[12] übernahm Sohn Klaus-Udo das Geschäft; er wohnt noch heute mit seiner Frau Sonni im Haus. Das Ladenlokal wurde jedoch bald schon vermietet und anderweitig genutzt. Den Malerbetrieb führte Klaus-Udo aber noch bis 1975.[13]

Ca. 1970 eröffnete Jack Violonchi in dem Lokal ein Geschäft für Perserteppiche unter dem Namen Orient-Teppichhaus Frank. Bei der Namensgebung spielte sicher eine Rolle, dass man an dem Schriftzug über dem Ladenlokal nur ein "e" entfernen musste. Das Geschäft wurde als Familienbetrieb geführt. Jacks Bruder Georg (Jojo) und seine Schwester Rosmari waren ebenfalls im Geschäft tätig.

Nachdem Jack Violonchi 1980 in neue und größere Geschäftsräume am Buttermarkt gezogen war, gründete Uschi Siegers in den Räumen ihr Geschäft für Damenunterwäsche.[14] Anfang 1990 zog sie einige Häuser weiter ins Haus Ellenstraße 8. Vom Nachbarhaus Ellenstraße 6 zog dann um 1989 in das Ladenlokal im Haus Franke Frau Neikes aus Mönchengladbach mit der Firma Bimbambino, die Kindermode verkaufte. Das Geschäft wurde später an Hilde Späth übergeben, die es ungefähr bis 1999 weiteführte. Um 2000 eröffnete die Firma Glas Schmitz für kurze Zeit ein Geschäft für Glaswaren aller Art. Seit Oktober 2002 betreibt Kerstin Römer ein Schmuckgeschäft, zunächst unter dem Namen Die Schatzinsel, später unter Silberschmuck Römer.

Im Sommer 1993 wurde die Front des Hauses nochmals völlig umgestaltet und modernisiert. 2007 erhielt das Haus zudem einen neuen, erweiterten Dachstuhl und wurde neu eingedeckt.



Einträge in alten Adressbüchern

1879

  • Winter, Simon, Metzger, Kempen, Haus-Nr. 31

1898

  • Winter, Simon, Viehhändler

1912

  • Winter, Simon, Viehhandlg., Kurz-, Weiß- u. Wollwrhdlg., Fernspr. 113

1925

  • Winter, Simon, Viehhandlung, Tel. 23

1930/31

  • Winter, Simon, Rentner

1937

  • Winter, Salomon, Viehhändler

1959

  • Franke, Paul, Anstreicherei, Tapeten, Farbw.

Quellen

  1. Einträge in alten Adressbüchern
  2. 2,0 2,1 Aus den Erinnerungen von Karl Hamm
  3. 3,0 3,1 https://rp-online.de/nrw/staedte/kempen/in-kempen-werden-weitere-stolpersteine-verlegt_aid-38959423
  4. Laut Kaiser richtete Simon Winter 1898 im Haus ein Geschäft für Wäsche und Kurzwaren ein, das heißt, er verkaufte den Kempenern Tischdecken, Bettwäsche, Nähgarn und Wolle (vgl. RP). Nach den Erinnerungen von Karl Hamm wurde der Laden aber wohl vorrangig von Jettchen betrieben.
  5. 5,0 5,1 5,2 vgl. Kaiser, Hans, http://www.min-kempe.de/spuren.html
  6. Heimatbuch des Kreises Viersen, 1979, S. 259
    • Winter, Berta, geb. Baum
    geb. 20. 5. 1890 Treysa/Krs. Ziegenhain
    Kempen,
    emigriert Niederlande 1936
    • Winter, Mirjam
    geb. 17. 8. 1933 Düsseldorf
    Tochter der Berta Winter
    Kempen,
    emigriert Venlo/NL 1936 (mit Eltern)
  7. Heimatbuch des Kreises Viersen, 1979, S. 259
    • Winter, Salomon
    geb. 2. 2. 1882 Kempen
    Viehhändler
    Kempen, Ellenstr. 5
    Schutzhaft 1938
    emigriert England 1939
  8. Rheinische Post, Spuren der Vergangenheit, 3. Mai 2009.
  9. Heimatbuch des Kreises Viersen, 1979, S. 259
    • Winter, Simon
    geb. 15. 10. 1844 Kempen
    Kempen,
    emigriert Venlo/NL 1938
  10. Friedhelm Weinforth: Geschichte der jüdischen Gemeinde Kempen, in: Gerhard Rehm (Redaktion): Geschichte der Juden im Kreis Viersen (Schriftenreihe des Kreises Viersen 38), Viersen 1991, S. 273-306, hier S. 304., in: http://www.steinheim-institut.de/daten/e20_all.html
  11. Erkes verwaltete in Verbindung mit dem Kempener Finanzamt das Vermögen der Juden, die von den Nazis zur Emigration gezwungen wurden. Nachzulesen in Gestapo-Akten, die heute im Düsseldorfer Hauptstaatsarchiv aufbewahrt werden. (Quelle: Rheinische Post, Spuren der Vergangenheit, 3. Mai 2009)
  12. Kassenbuch der Straßengemeinschaft: August 1967 Sterbefall Franke
  13. siehe auch Eine Idylle mit vielen Tontöpfen, WZ-Newsline, 8.8.2012
  14. Anzeige der Fa. Siegers in der Sonderbeilage der WZ zum Stadtfest 1982



Wörtlich aus den Erinnerungen von Karl Hamm:

In diesem Haus lebte die streng gläubige orthodox-jüdische Familie Winter. Ich sehe den alten Simon Winter mit Bart und langer Pfeife noch vor dem Haus stehen. Ein Ausspruch von Simon Winter: "Ich möchte es mir auf die Stirn schreiben, dass ich ein Jude bin."
Im Haus lebten die Kinder Salomon und Jettchen. Salomon, der spät noch heiratete und eine Tochter hatte, betrieb Viehhandel. Ein Tor an der Ellenstraße führte zu den rückwärts gelegenen Stallungen. Jettchen führte ein Handarbeitsgeschäft.
Es herrschte ein gut nachbarschaftliches Verhältnis zu Familie Winter. Bei Lebensmittel-Hamm wurde "koscher" eingekauft. Am Pascha-Fest erhielt man von Winter ungesäuertes Brot, Mazen genannt. Ein weiterer Sohn von Simon Winter war Karl Winter, Rechtsanwalt in Kempen. Eine Tochter war Krankenschwester in Frankfurt und aktive "Zionistin".
Nach der Machtergreifung in Deutschland durch den Nationalsozialismus wanderte die Familie rechtzeitig aus, zuerst nach Amsterdam, später nach London.
Das Haus kaufte Anstreichermeister Paul Franke. Er baute das Haus völlig um. Im Anbau richtete er seine Werkstatt ein. An der Ellenstraße eröffnete er ein Farben- und Tapetengeschäft. Nach seinem Tod übernahm Sohn Klaus-Udo das Geschäft. Das Ladenlokal wurde jedoch vermietet und anderweitig genutzt.